Preisverleihung 2022 der Stiftung Dr. J.E. Brandenberger am 19.11.2022 in Bern © Josef Ritler
25 novembre 2022
Jenny Keller | Da un punto di vista personale
Sorgfalt im engen Territorium von Genf
Wir gratulieren unserer Stiftungsrätin Ariane Widmer Pham ganz herzlich zum Preis der Stiftung Brandenberger, der ihr am 19. November feierlich übergeben wurde und lassen Ariane Widmer Pham im folgenden Interview zu Wort kommen.
JK: Weshalb engagieren Sie sich in der Stiftung Baukultur?
AW: Weil es eine Stiftung für die Baukultur ist! Mit einem schweizweiten Zielpublikum. Sie richtet sich nicht nur an Professionelle, sondern auch an andere wichtige Akteure wie Gemeinden oder die Bauwirtschaft. Ich bin Architektin und arbeite als Stadtplanerin in Genf. Meine Passion ist die Stadt mit ihrer Architektur. In beiden Massstäben geht es um Raum, Licht und Emotionen. Guter Städtebau, sorgfältige Architektur und hohe Baukultur bewirken, dass wir uns wohlfühlen, dort wo wir wohnen, arbeiten und uns begegnen. Das ist mir extrem viel wert.
Wie definieren Sie Baukultur?
Es ist kein geteiltes Selbstverständnis. Allgemein gibt es ein sehr schlechtes Verständnis für Baukultur, weil man zu wenig weiss, nicht genügend darüber redet. Baukultur gehört in die Grunderziehung der Schulen.
Weshalb ist sie nicht selbstverständlich?
Ich denke, weil man Baukultur erläutern muss: Es handelt sich um ein Verständnis, dass man sich zu erarbeiten hat. Es gilt zu beobachten, zu hinterfragen, wie früher gebaut wurde, oder weshalb man es heute so macht. Die Einfachheit des Bauens – der Schreiner war der Nachbar, der Schmid wohnte nicht weit weg –, ging verloren und damit die Beziehung zum Material und zum Handwerk. Damals wusste man, dass das Holz aus dem Wald daneben stammte, die Steine aus dem Fluss unten, der Stoff vom Markt wurde in St. Gallen produziert. Es war alles fassbar.
Man muss auch verstehen, dass wir als Bewohner eines Quartiers mitreden dürfen in unserem Umfeld. Dass unser Umfeld umgekehrt unsere Meinung braucht. Die Stadt ist eine kollektive Idee. Dieses Verständnis muss gestärkt werden.
In Ihrem Input an der zweiten Veranstaltung in der Reihe «Erfolgsfaktor Baukultur» stellten sie die bezeichnende Frage: Welches Leben wollen wir leben?
Ja, es geht bei Baukultur um das Bewusstsein darüber, was man hat und was man will. Wir befinden uns in einem zeitlichen Kontinuum, und wahrscheinlich hat der Mensch Diversität gerne. Das hat sicher etwas mit Wurzeln zu tun: Wie keine zwei Menschen nie gleich sein können, können das auch nicht zwei Städte oder zwei Dörfer. Wir müssen dieses Bewusstsein pflegen, weil uns diese Diversität gefällt, die Identität uns glücklich macht.
Inwiefern ist die Verwaltung, die öffentliche Hand an einer solchen Baukultur beteiligt?
Genf, wo ich arbeite, ist tief geprägt durch sein sehr kleines Territorium. Seit der Reform hat sich die Stadt in ihre Mauern verzogen und hat sich mit ihren Nachbarn organisieren müssen, schon nur, um die Bevölkerung zu ernähren. Das zu enge in Genf hat bewirkt, dass man hier mehr reguliert als anderswo. Regulieren ist eigentlich kein schönes Wort, aber dahinter stehen Zielsetzungen, die ich teile: Die Landschaft und die Landwirtschaft zu bewahren beispielsweise. Seit dem Beginn des 20. Jahrhundert gibt es die Kommission für Landschaftsschutz, die sich sozusagen für den Heimatschutz eingesetzt hat. Mit der Auswirkung, dass in der Administration auf Qualität gesetzt werden musste, weil das Bauen nicht einfach ist hier.
Auch bei der Raumplanung und dem Städtebau ist der Umgang mit dem Bestand zentral. Genf war meines Wissens als eines der ersten Städte im Bundesinventar der Schützenswerten Ortsbilder ISOS in den 1970er Jahren, welches nun erneuert wurde. Heute schlägt eine Plattform die Brücke zwischen dem Amt für Denkmalpflege und dem Amt für Stadtplanung, was uns ermöglicht, über sensible Projekte zu diskutieren. Das ist extrem bereichernd.
Der Druck auf das enge Territorium, in dem es eine starke «concurrence territoriale» gibt, hat Einfluss auf die Sorgfalt mit der man vorgeht. Auf einem Quadratmeter gibt es in Genf zehn mögliche Nutzungen.
Aber es gibt noch Territorien im Stadtkanton Genf, die man bebauen kann. Wie gehen Sie da vor?
2007 wurde das erste Aggloprogramm des Grossraums Genf abgegeben. Der Genfer Funktionalraum dehnt sich weit über die kantonalen Grenzen aus. Diese erste Generation der Aggloprogramme waren auch in Genf vor allem durch die Koordination von Verkehrs- und Siedlungsentwicklung geprägt. Die zum Teil interkommunalen Gebiete wurden als «grands projets» entlang der Verkehrsinfrastrukturen entwickelt. Diese befinden sich fast ausschliesslich auf der grünen Wiese. Die ersten sind bereits erstellt, gewisse sind im Bau, und die letzten, denke ich, werden teilweise infrage gestellt werden.
Aber trotzdem hat sich die Vision des «projet d'agglomération» zum grossen Teil bewährt, und wir können heute Anpassungen vornehmen, wenn nötig. Das tun wir heute mit der Revision des kantonalen Richtplans, der auch jetzt, 15 Jahre später, wieder mit einem Leitbild über den Grossraum Genf beginnt. Dieses Leitbild wird im nächsten Schritt in den verschiedenen Planungsinstrumenten umgesetzt werden, u.a. dem kantonalen Richtplan von Genf. Es gibt jedoch neue Zielsetzungen und Fragen – zum Beispiel, wie die Raumplanung zum Ziel Netto-Null beitragen kann –, die das Vorgehen tief prägen. Die möglichen Lösungen werden in Form einer Testplanung erarbeitet. Vier beauftragte Teams bearbeiten dabei vier Teilgebiete in einem Prozess von 1,5 Jahren, ein 5. Team entwirft eine progressive «vision territoriale transfrontalière». In der ersten Phase werden eine kritische Diagnose des Ist-Zustands – wo machen wir es richtig und wo falsch? – und auch erste Lösungsansätze erwartet.
Wir wissen ausserdem, dass wir zukünftige Verdichtungszonen innerhalb der Bauzonen finden müssen, und dies vor allem in den peripheren Räumen. Grosse aber heikle Reserven befinden sich auch in den Villenquartieren. Nun muss man sich quasi mit einer Lupe in der Hand dem Bestand nähern, um dessen Potenzial zu finden. Hier kann man von einem «urbanisme de dentelles» sprechen, einer Stadtplanung, in der sich die Antwort mehr auf der architektonischen Ebene befindet als auf der planerischen.
Und inwieweit gibt es dabei partizipative Prozesse? Wie involviert man die Bevölkerung?
Symptomatisch für den zu engen Raum ist, dass man seit langem im Bestand umbaut. Genf befindet sich in einem starken Transformationsprozess. Man denke an die edlen «grands ensembles» aus den 1960er und -70er Jahren, die sich in die Parkanlagen der grossen Herrenhäuser eingebettet haben. Oder an die vielen Aufstockungen der letzten Jahre. Das bedeutet, dass die Bevölkerung eine hohe Sensibilität für die Transformation ihres Umfelds aufweist. Das Verschwinden von Bäumen bewirkt seit jeher grossen Unmut. Deshalb gibt es viel Opposition.
2015 wurde deshalb gesetzlich verankert, dass ein Planungsprozess immer von einem Partizipativverfahren begleitet werden muss. Auch die Revision des kantonalen Richtplans wird durch ein sehr breites Partizipativverfahren begleitet, «des Forums citoyens». Eine Akzeptanz der Projekte und somit weniger Einsprachen sind die eine Folge, die Projekte sollen jedoch vor allem den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner entsprechen.
Preisverleihung 2022 der Stiftung Dr. J.E. Brandenberger am 19.11.2022 in Bern © Josef Ritler
Preisverleihung 2022 der Stiftung Dr. J.E. Brandenberger am 19.11.2022 in Bern © Josef Ritler
Stiftung Dr. J. E. Brandenberger
Seit 1990 verleiht die Stiftung Dr. J.E. Brandenberger jährlich die Preissumme von CHF 200'000 CHF an herausragende Persönlichkeiten mit Schweizer Bürgerrecht, die sich unter grossem und anhaltendem Einsatz der Verbesserung der materiellen und immateriellen Lebensbedingungen von Menschen verschrieben und sich dabei besondere Verdienste erworben haben. Das Jahr 2022 steht unter dem Thema «Raumplanung als öffentliche Aufgabe für eine nachhaltige Entwicklung», und der Preis ging an Ariane Widmer Pham.
Jenny Keller
Jenny Keller, Architekturjournalistin und Redaktorin bei werk, bauen + wohnen, unterstützt die Stiftung Baukultur Schweiz in der Kommunikation.
www.wbw.ch