Harald Nägeli, der ‘Sprayer von Zürich’, hinterlässt ab den späten siebziger Jahren eine Reihe von enigmatischen Zeichnungen im öffentlichen Raum. Sie werden als Vandalismus behandelt, der Künstler verurteilt. Wie bei der jüngsten Sanierung der ETH-Tiefgarage erfahren heute die von Nägeli hinterlassenen Spuren grösste Sorge / Foto: Yosuke Nakamoto
24 maggio 2024
André Bideau | Da un punto di vista personale
Interdependenzen
Die Beziehung zwischen Kunst und Architektur ist kein neues Thema. Sie wird jedoch brisant, wenn sie als Gradmesser der städtischen und politischen Öffentlichkeit analysiert wird. Bei seiner aktuellen Forschungsarbeit greift der Studiengang MAS GTA diese Wechselwirkungen als Fragestellung auf.
Kunst und Bau und andere Formate künstlerischer Intervention in Architektur und Städtebau setzen in der Regel eine breite Öffentlichkeit als Publikum voraus. Dies ist vor allem der Fall, wenn die Bauten von einer städtischen oder staatlichen Trägerschaft in Auftrag gegeben und/oder finanziert wurden. Aber für wen spricht diese Kunst? Und was verschweigt sie? Und wie steht es um Fragen des Gebrauchs und der Obsoleszenz öffentlicher Kunstwerke, wenn deren Existenzberechtigung in Frage gestellt wird?
Unter dem Arbeitstitel ‘Interdependenzen’ ist das aktuelle Projektsemester des MAS GTA diesen Fragen gewidmet. Studierende betrachten Beispiele von künstlerischen Interventionen in Architektur und Städtebau in der Stadt Zürich, um dem Zusammenspiel und der gegenseitigen Bedingtheit von Kunstproduktion, öffentlichem Bauen und Stadtöffentlichkeit nachzugehen. Die Fallstudien bilden die Grundlage für eine Ausstellung an der ETH Hönggerberg im Frühjahr 2025.
Ausgehend von Nachlässen im Archiv GTA haben neunzehn Studierende auf dem Gebiet der Stadt Zürich Beispiele von Kunst und Öffentlichkeit untersucht. Das Spektrum reicht vom Historismus bis in die jüngste, postmoderne Vergangenheit, von repräsentativen Bildungs-Bauten wie den Hauptgebäuden von ETH und Universität bis zur Zürcher S-Bahn. Zwischen Stadtkrone und Verkehrsinfrastruktur spiegelt sich in der jeweils zugeordneten Kunst ein spezifischer Moment der Stadtentwicklung. In verschiedenen Massstäben und an unterschiedliche Öffentlichkeiten gerichtet, wird die Kunst zu einem Gradmesser, an dem sich gesellschaftliche und kulturelle Umbrüche ablesen lassen.
Zu den aus heutiger Sicht überraschenden Umbrüchen zählen etwa die Altstadt-Sanierungsvorschläge für das ‘Farbige Zürich’ unter Stadtbaumeister Hermann Herter. Nach dem Ersten Weltkrieg drohte Teilen der mit Leerstand konfrontierten, heruntergewirtschafteten Altstadt der Abriss; hier hätten die künstlerischen Interventionen von Augusto Giacometti eine Rehabilitation einleiten sollen. Aus den 1970er Jahren sticht wiederum die neuartige Verwebung von bestehender Landschaft, Architektur und Plastik bei den Neubauten der Kantonsschule Rämibühl oder der Wohnsiedlung Heuried hervor, als Gestalter Kritik an der schrankenlosen Modernisierung und der damit einhergehenden Abrisswut formulierten. Somit ergeben sich zwischen damals und heute erstaunliche Resonanzen.
Kunst am Bau ist Wertzuschreibung und damit Teil politischer Prozesse. Sie beruht auf einem Auftrag oder einem Ankauf, der seinerseits auf Konsensfindung angewiesen ist. Das Projekt Interdependenzen untersucht gerade auch Kontroversen wie den ‘Kampf am Hönggerberg’ der siebziger Jahre, als nach Auseinandersetzungen mit Planer Albert H. Steiner die künstlerische Ausstattung des neuen ETH-Campus sistiert wurde.
Die Pauluskirche, städtebauliche Dominante zwischen Wohnbaugenossenschaften des Milchbuck-Quartiers, ist zugleich eine ‘feste Burg’ – so 1929 das Wettbewerbs-Kennwort der Architekten Arter und Risch. Im Bild Glockenaufzug um 1934, am Kirchenportal fehlen noch Otto Kappelers vier Reformatoren / Fotograf: Gottfried Gloor © Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich
Am Freitag, 31. Mai 2024, von 10 bis 14 Uhr erhalten Sie bei einer öffentlichen Präsentation Einblick in die Schlüsselerkenntnisse des Projektsemesters. Die auf Archivdokumenten basierenden Fallstudien werden von den Studierenden präsentiert und mit GTA-Professor Dr. Philip Ursprung und weiteren Gästen diskutiert. Der Anlass in Zürich ist öffentlich und findet im Turmzimmer der Pauluskirche (einem der untersuchten Fallbeispiele) statt.
Am selben Ort, von 16 bis 18:30 Uhr, findet ein moderiertes Podium mit zehn Verfasser:innen von Abschlussarbeiten des MAS GTA statt. So ermöglicht der gesamte Tag Einblicke in die thematische und methodische Vielfalt des von Dr. André Bideau und Dr. Susanne Schindler geleiteten Studiengangs.
Der Anlass bietet zugleich die Gelegenheit, sich mit Programmleitung, aktuellen Studierenden sowie Absolvent:innen über eine Teilnahme am MAS GTA auszutauschen.
https://gta.arch.ethz.ch/programme/mas-gta/veranstaltungen/interdependenzen-praesentation.html
https://gta.arch.ethz.ch/programme/mas-gta/veranstaltungen/masterarbeiten-rueckschau.html
Fragen zum Anlass vom 31. Mai 2024 oder zum Studiengang an mas@gta.arch.ethz.ch
Veranstaltungsort:
Pauluskirche, Milchbuckstrasse 57, 8057 Zürich
Turmzimmer 3. Stock
André Bideau
André Bideau ist promovierter Architekturhistoriker, Publizist und Kurator und leitet zusammen mit Dr. Susanne Schindler den MAS GTA an der ETH Zürich. Zudem lehrt er an der Accademia di architettura in Mendrisio und ist Mitbegründer des Zentrums Architektur Zürich. Im Winter 2023 wurde dort die auf einem Forschungssemester des MAS GTA basierende Ausstellung «Verdichtung oder Verdrängung – wenn Neubauten ersetzen» gezeigt.