Flyer des Kolloquiums Erste Engadiner Architekturtage in Scuol, 2021 © Fundaziun Nairs
3 maggio 2022
Aita Flury | Da un punto di vista personale
Bauliche Identität - Erste Engadiner Architekturtage 21.-23. Oktober 2021 in der Fundaziun Nairs in Scuol - Teil 1
Das von den beiden Architekten Roger Boltshauser und Christian Inderbitzin kuratierte Kolloquium der ersten Engadiner Architekturtage thematisierte die bauliche Identität. Diese kennzeichnet Städte und Dörfer mit einem spezifischen Charakter, unterscheidet sie und macht sie zu Orten. Doch was macht eine derartige Identität aus, wie erhalten oder kreieren wir sie neu? In drei Podiumsdiskussionen zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Engadins wurden diese Fragen mit nationalen und internationalen Gästen diskutiert.
Tradition und Gegenwart des Engadins
Die Teilnehmer*innenrunde der ersten Paneldiskussion vom 21. Oktober bestand aus den Architekt*innen Chasper Schmidlin (Zürich), Gion Caminada (Vrin), Aita Flury (Zürich) und dem Moderator Roger Boltshauser (Zürich) und stand unter dem Titel ‚Tradition und Gegenwart des Engadins’.
Alte Brunnengemeinschaft bei der Plazzetta in Scuol © Ruth Grünenfelder
Neue Brunnengemeinschaft in Scuol © Carola Hartmann, ETHZ Studio Boltshauser
Zur Einführung des Kolloquiums stellte Aita Flury, die als Gastkritikerin die beiden Semester zum Thema Scuol vom Studio Boltshauser an der ETHZ begleitet hatte, die herausgeschälten Themenkomplexe und einige darauf aufbauende, beispielhafte Entwürfe kurz vor. Sie betonte die unbezahlbare und bemerkenswerte Qualität einer solchen Zusammenarbeit zwischen Schulen und Gemeinden. Um übergeordnete räumliche Themen zu entwickeln ist diese Form der Kooperation eine absolute win-win Situation: Einerseits kriegt die Gemeinde durch die Arbeiten der Studierenden sehr viele wichtige Impulse, die auf arbeitsaufwändigen räumlichen Analysen basieren. Gleichzeitig bekommt die Jugend - die Student*innen - eine Stimme und werden ihre Fertigkeiten an aktuell-realen, relevanten Themen geschärft. Die nachfolgende Diskussion drehte sich dann vor allem um das Bauen im Bestand und den dafür adäquaten Umgang.
Aita Flury hielt fest, dass die Transformation von Strukturen für andere Nutzungen historisch kein Novum ist: Über die ganze Kulturgeschichte hinweg wurden Bauten, Anlagen immer wieder umgebaut und mit neuen Nutzungen belegt. Als sehr bekanntes Beispiel mag die ursprünglich als christliche Kirche erstellte Hagia Sophia dienen, die dann zur Moschee wurde, um später zum Museum zu werden und die nun seit kurzem wieder als Moschee genutzt wird. Insofern gehe es vor allem um die Frage nach dem Wie, nach einem intelligenten Umgang mit den starken Strukturen der Engadiner-Häuser. Die räumliche Hauptchallenge läge aber nicht nur beim Umgang mit dem historischen Bestand, sondern genauso bei den Fragen nach dem Umgang mit dem schlechten Zustand der Textur in den zersiedelten Gebieten, die in den letzten 50 Jahren um die Kerndörfer herum entstanden sind.
Starke Strukturen: Das Engadiner Haus © Schweizer Heimatbücher Band 47/48, Das Engadiner Haus, Verlag Paul Haupt Bern, S.8
Stallensemble in Scuol. Welche Nutzungen sind für die Ställe adäquat? © Aita Flury
Gion Caminada betonte seine tiefempfundene Abneigung gegenüber Transformationen von Ökonomie- zu Wohngebäuden: ‚Leuchtende Ställe’ würden das Ortsbild komplett verändern und dessen ursprüngliche Identität zerstören. Ein Stall sei nur ein Stall solange Kühe mit schönen Kuhaugen darin wohnen würden. Er plädierte insofern gegen Gleichmache und für Differenz.
Chasper Schmidlin im Gegenzug betonte das Potential von Umnutzungen, wie er es selber an seinem Projekt für das Muzeum in Susch erfahren und umgesetzt habe. Die Aktivierung von brachliegenden, starken Strukturen sei ein potentes Mittel um die Dörfer neu zu beleben, gerade mit öffentlichen Nutzungen. Wichtig sei es dabei natürlich in einen fruchtbaren Dialog mit der Denkmalpflege zu treten und die identitätsstiftenden Momente der Häuser zu stärken.
Roger Boltshauser wies darauf hin, dass die Belebung der Dorfkerne und damit oft auch die Umnutzung der Ställe im Widerspruch zu den Vorgaben der Denkmalpflege stehen. Hier wäre eine dialogischere Haltung erwünscht. Auch für die Verdichtung der Dorfkerne oder für Erweiterungen fehlten geeignete Konzepte und qualitätssichernde Instrumente der Gemeinden. Die Studenten*innen der ETH Zürich hätten dazu interessante Ideen entwickelt, die durch Anpassung der Baugesetze dichtes Bauen in den Kernen und Umnutzungen mit räumlichen Qualitäten ermöglichen könnten. So könnte die lokale Baukultur neu interpretiert werden und zusätzlich öffentliche Nutzungen, wie auch preisgünstiges Wohnen in den Kernen möglich werden. Insgesamt lokalisiert Roger Boltshauser für das Unterengadin ein grosses Potential für eine qualitäts- und massvolle Entwicklung der bestehenden, hervorragenden Baukultur. Dafür notwendig wären eine geeignete Zonenplanung, die Anpassung der Baugesetze und eine übergeordnete Entwicklungsstrategie-Planung.
Dauerbrenner Umgang mit Ställen © Hochparterre 4/17, Köbi Gantenbein
Muzeum Susch © Studio Stefano Graziani
Die ganze Diskussion kann unter folgendem weblink angeschaut werden: https://www.youtube.com/watch?v=X1PZVeLnOkw&t=1s
Aita Flury
Aita Flury *1969 in Chur, studierte Architektur an der ETH Zürich. Seit 2005 betreibt sie ein eigenes Architekturbüro in Zürich. Neben der praktischen Arbeit war sie in der Lehre tätig (ETHZ/HTW Chur/KIT Karlsruhe), hat die Ausstellung Dialog der Konstrukteure kuratiert und publiziert zu architektonischen Themen. Seit 2021 hat sie ein Mandat für die fachliche Leitung bei der Stiftung Baukultur Schweiz.