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Baukultur im Wandel

Zürcher Schiffbau: Das älteste Bauwerk auf dem einstigen Industrieareal der Escher Wyss Maschinenfabriken AG. Die Umnutzung zu einem Kultur- und Werkzentrum war wichtiger Katalysator für die städtebauliche Entwicklung von Zürich-West © Juliet Haller

10 novembre 2021
Katrin Gügler | Feuilleton

Baukultur im Wandel

Fachwelt, Politik, Verwaltung, Öffentlichkeit: Gemeinsam sind wir auf der Suche nach einer ‚guten’ Baukultur, nach passenden Definitionen und guten Handlungsansätzen. Es handelt sich schliesslich, ganz besonders im städtischen Gebiet, um ein allgegenwärtiges Phänomen: Das Gebaute und Gestaltete begegnet uns täglich. Wir formen als Menschen unsere Lebensräume - umgekehrt prägen sie uns.

‚Baukultur’ trägt als Wort einen Aspekt von Beständigkeit in sich. Seit Jahrtausenden entwickeln wir uns im Bauen, hier spiegelt sich unsere Geschichte - unsere Kultur als Gemeinschaft. Doch wie die Gesellschaft befindet sich natürlich auch der Begriff der Baukultur in stetem Wandel. Sie umfasst im modernen fachlichen Verständnis alle raumwirksamen Tätigkeiten: Vom architektonischen Detail bis hin zur grossmassstäblichen Stadtplanung. Das macht Baukultur im Umkehrschluss, spätestens heute, auch zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, einer Debatte, die es zu führen gilt.

Baukultur im Wandel

Schulhaus Schütze: Städtebau braucht mehr denn je eine Gesamtsicht – auch zur Bereitstellung der öffentlichen Infrastrukturen © Juliet Haller

Was bedeutet dieser Kulturwandel für unsere Arbeit?

Als Direktorin des Amts für Städtebau gestalte ich die planerische und bauliche Entwicklung Zürichs mit - gemeinsam mit meinen MitarbeiterInnen. Und selbstverständlich geht es dabei immer in engerem oder weiteren Sinne um Baukultur, um Qualität und was wir darunter verstehen. Wenn wir z.B. im Baukollegium die architektonische und städtebauliche Qualität von Projekten beurteilen, brauchen wir entsprechende Kriterien. Auch diese sind nicht statisch, sondern wandeln sich mit der Zeit. Währenddem wir früher darunter v.a. Aspekte der städtebaulichen Einordnung, der architektonischen Gestaltung und Erscheinung berücksichtigten, rücken heute neue Themen in den Vordergrund und prägen den Diskurs um eine gute Stadtentwicklung. Folgende vier zentrale Themen möchte ich beispielhaft nennen, denn sie haben einen entscheidenden Einfluss auf unsere stadtplanerische Arbeit:

1. Netto-Null

Klimathemen sind für die bauliche Zukunft der Stadt Zürich zentral: Ein Viertel aller CO2-Emissionen in der Schweiz stammt aus dem Gebäudesektor. Neubauten müssen heute klima- und umweltfreundlich sein, Ressourcen schonen und Landschaften bewahren. Ein wichtiger Handlungsansatz für Letzteres ist die bauliche Verdichtung. Sie soll überwiegend dort passieren, wo heute bereits Siedlungsgebiet ist: In den städtischen Zentren und Agglomerationen.

Baukultur im Wandel

Obwohl die Treibhausgasemissionen auf Zürcher Stadtgebiet seit 1990 um einen Viertel gesunken sind, braucht es weitere Massnahmen, um das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens zu erreichen © Stadt Zürich

Die Stadt Zürich hat sich zudem das Ziel gesetzt bis 2040 klimaneutral zu planen und zu bauen. ‚Netto-Null 2040’ gibt uns eine gute Grundlage, eine ‚Idée Fixe’. Entsprechend ändert sich bei neuen Bauten der Qualitätsbegriff: Es gilt die Nachhaltigkeit in die Projekte zu integrieren. Es geht aber auch darum, sich vertiefter mit dem baulichen Bestand zu befassen und abzuwägen, wie wir Ersatzneubauten mit Bestandesbauten kombinieren. Denn nicht zu bauen ist stets am schonendsten.

2. Stadtklima / Grün- und Freiräume

Bei unserer Arbeit im Amt für Städtebau und im Baukollegium rückt auch der Grün- und Freiraum immer mehr ins Zentrum: Baumpflanzungen, Ver- und Entsiegelung werden genauso begutachtet wie die Fassadengestaltung - auch hier ist der Qualitätsbegriff im Wandel. Nicht von ungefähr sitzt heute auch ein Landschaftsarchitekt im Baukollegium.

Auch die Bau- und Zonenordnung (BZO) als Grundlage für unsere Tätigkeit sollte aus meiner Sicht diesbezüglich aktualisiert werden. Macht sie heute vor allem, Vorschriften zu den Bauten selbst, gilt es hier vermehrt auch den Raum ‚dazwischen’ zu regeln. So geht es vermehrt auch um Fragen zu Grünvolumina, zur Unterbauung oder - im Sinne der Kaltluftströme - zur Ausrichtung der Bauten im Stadtraum. Solche Vorgaben wären für das Zürich von morgen sicherlich sinnvoll und wünschenswert.

3. Sozialraum

Zürich bietet heute allen Bevölkerungsschichten eine hohe Lebensqualität - die soziale Durchmischung ist grösstenteils gewährleistet. Sozialräumliche Themen werden aber stetig drängender. Wo viel und im bereits bebauten Raum gestaltet wird, sind soziale Faktoren der Verdrängung leider ein Fakt. Und zu oft wird noch nach dem Prinzip ‚Tabula rasa’ gebaut. Hier müssen wir im Sinne einer nachhaltigen Baukultur etwas bewirken: Zum einen fördert die Stadt Zürich den gemeinnützigen Wohnungsbau mit allen vorhandenen Mitteln. Zum andern thematisieren wir soziale Fragen proaktiv: Sanfte Aufwertungsmassnahmen am Bestand, die Etappierung bei Arealüberbauungen, hochwertige Ergänzungsbauten und eine gute Umgebungsgestaltung fördern ein sozial nachhaltiges Bauen im Sinne der ganzen Bevölkerung.

Baukultur im Wandel

Leitfaden: der Stadt Zürich: Die vier Erfolgsfaktoren zeigen, wie die soziale Dimension der Nachhaltigkeit neben der ökologischen und der wirtschaftlichen Dimension bei Ersatzneubauten und Sanierungen berücksichtigt werden können © Stadt Zürich

4. Mitsprache

Die Komplexität in der Stadtplanung nimmt zu. Baukulturelle Fragen verschieben sich sowohl in ihren Inhalten als auch hinsichtlich der Zuständigkeiten. Eine gesellschaftliche Aufgabe wird nun in der Bevölkerung auch als solche verstanden: Sie will die bauliche Entwicklung vermehrt aktiv mitgestalten. Mitsprache wird zunehmend eingefordert.

Das heisst aber auch: Wer plant und baut, muss heute den Härtetest der öffentlichen Meinung bestehen. Sei es in der Hochhaus-Diskussion die wir stetig führen, bei Wettbewerben und Gestaltungsplänen, aber auch beim Bau von Schulhäusern, Quartierparks und Wohnsiedlungen. Mitsprache wird zunehmend erwartet. Städtebau braucht darum heute eine Kompetenz für das Öffentliche - Fähigkeiten zur Prozessführung und Vermittlung sind unerlässlich geworden.

Baukultur im Wandel

Blick auf Zürich-West und das Toni-Areal: Wo sich viel entwickelt, gilt es auch oft den Dialog zu suchen
© Juliet Haller

Dies stellt uns auch vor neue Aufgaben: Früher war das Planen und Bauen v.a. durch Fachfragen geprägt, Städtebau wurde als Fachdisziplin verstanden. StadtbaumeisterIn zu sein etwa, war eine sehr physisch gestaltende Aufgabe. Heute fungiert das Amt für Städtebau vermehrt auch als Schaltstelle, welche solche Prozesse leitet, Ressourcen bündelt und Ziele vermittelt. Hinzu kommen breite Mitwirkungsprozesse: Sie bieten uns spannende Chancen für den Dialog mit der Bevölkerung, die wir nutzen wollen.

Dazu wiederum brauchen wir eine gute Baukultur: Eine, die die Vergangenheit ehrt und berücksichtigt, ohne die Zukunft aus den Augen zu lassen. Eine, die sich neuer Themen annimmt und die offene Diskussion sucht. Eine, welche die vernetzte Gesellschaft in ihrer Vielfalt, ihrer Dichte und Inklusion abbildet. Gemeinsam finden wir so auch in Zukunft konsensfähige Lösungen im Sinne einer ganzheitlichen Baukultur.

Katrin Gügler

Katrin Gügler *1965 in Zürich, Studium an der ETH Zürich. Gemeinsames Architekturbüro mit Regula Stahl in Zürich und Basel. Lehrtätigkeit an der ETH Zürich sowie Diplomexpertin an der Fachhochschule Nordwestschweiz. 2007 - 2016 Mitglied der Geschäftsleitung im Amt für Städtebau Winterthur. Seit 2017 Direktorin des Amts für Städtebau.

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