Urs Marti, Stadtpräsident von Chur © Stadt Chur - Alice Das Neves
19 dicembre 2023
Stiftung Baukultur Schweiz | Da un punto di vista personale
«Baukultur bedeutet Verantwortung»
Interview mit Urs Marti, Stadtpräsident von Chur. Er spricht über Baukultur: Bewahrung und Erneuerung von Gebäuden sowie deren Herausforderungen.
Herr Marti, als Stadtpräsident von Chur sind Sie zuständig für das Departement Finanzen Wirtschaft Sicherheit und darin für die Immobilien und deren Bewirtschaftung. Wo liegt der Fokus Ihrer Arbeit?
Zunächst einmal vielen Dank für das Gespräch. Als Stadtpräsident der Stadt Chur bin ich auch Stadtrat, der bei uns aus drei Personen besteht. Im Stadtrat werden die massgebenden Baubewilligungen erteilt. Der Stadtrat wird so zum Hüter der Baukultur der Stadt Chur. Es ist unbestritten, dass die Stadt eine Geschichte hat, in der wir uns wiedererkennen wollen, seien es die Stadtsilhouette oder einzelne Bauwerke. Demgegenüber steht natürlich die Verdichtung gegen innen. Verdichtung bedeutet, dass wir in einer wachsenden Stadt wie Chur eine ständige Güterabwägung machen müssen: Was wird bewahrt, was wird erneuert im Hinblick auf ökologische Fragen, wo wird investiert? Die Baukultur ist dabei für uns ein sehr wichtiges Element – sie ist aber natürlich nicht die einzige Aufgabe, die wir als Baubehörde haben.
Was umfasst sie denn, diese Baukultur?
Für mich in der täglichen Anwendung ist die Baukultur die Beschäftigung am konkreten Objekt. Sie umfasst Fragen zum Umgang mit einem solchen Objekt oder zur Pflege der Geschichte. Und sie bedeutet Verantwortung, die wir sehr ernst nehmen. Es handelt sich um eine gewisse epochale Betrachtung bei Werken, die vielleicht zu einer gewissen Zeit einen wegweisenden Charakter hatten. Erste Prototypen beispielsweise. Damit umfasst sie die Abwägung, die Auslegeordnung verschiedener Interessen. Wir lassen uns auch gerne in dieser Frage von Fachleuten unterstützen. Es gibt in der Stadt Chur eine Baukommission, die sich intensiv mit diesen Fragen auseinandersetzt. Daneben bestimmen übergeordnete Gremien oder ein Instrument wie das ISOS einen Schutzumfang.
Und wie kommt es, dass sie sich in der Stiftung Baukultur Schweiz engagieren?
Nun, die Stadt selbst ist aktuell (noch) nicht Partnerin der Stiftung Baukultur Schweiz. Über den Städteverband, wo auch die Stadt Chur Mitglied ist und ich als Vorstandsmitglied tätig bin, stehen wir allerdings im Austausch mit diversen Stiftungen, so auch mit der Stiftung Baukultur Schweiz. Als Präsident der ältesten Stadt der Schweiz mit einem umfangreichen baukulturellen Erbe und einer dynamischen Entwicklung freut es mich sehr, dass ich zu diesem Interview eingeladen wurde. Eine künftige, offizielle Partnerschaft ist denn auch sehr gut denkbar. Ein Engagement mit der Stiftung würde auch dahingehend Sinn machen, um unser Wissen breiter abzustützen, den Austausch zu pflegen und miteinander zu einer Best Practice zu gelangen.
Konzentriert sich die Baukultur denn nur auf den Bestand?
Nicht nur, aber zur Hauptsache. Ich glaube aber schon auch, dass wir bei der Entwicklung der Stadt Chur – wenn es um Quartierpläne, wenn es um Freiräume, wenn es um einen Nutzungsmix geht –, sehr wohl auch von Baukultur sprechen können. Trotzdem hat für mich die Baukultur in Bezug auf Historisches eine grosse Bedeutung. Bei Neuentwicklungen spricht mal vielleicht eher von urbaner Entwicklung, aber noch nicht explizit von Baukultur. Es könnte aber sein, dass dieser Begriff mit der Zeit anders verwendet wird, er sich wandelt.
Altstadt Chur © Stadt Chur - Markus Bühler
Die Bautätigkeit ist ja sehr investitionsintensiv. Sie erwähnten zu Beginn, dass es eine Güterabwägung zwischen Entwicklung und Bewahrung gibt. Wie kann man jemanden von der hohen Baukultur überzeugen? Von einer Investition, die sich vielleicht nicht explizit in einer Excel-Tabelle rechnet, beziehungsweise Geld generiert, sondern einen nicht ganz so einfach zu beziffernden Wert hat?
Die Ansichten darüber sind breit gefächert: Es gibt fundamentale Haltungen, und es gibt sehr liberale Haltungen. Die Aufgabe der Baubehörde, einer Behörde generell, ist, die Güterabwägung zwischen diesen beiden Extremen vorzunehmen.
Eine fachmännische Haltung und Meinung ist wichtig und gleichzeitig aber auch das Bauchgefühl. Die Bürgerinnen und Bürger auf der Strasse beurteilen auch mit, wenn man ein Monument oder ein Gebäude abbricht, das schlicht und einfach nicht zur Stadt gehört. Auf der anderen Seite herrscht teilweise Unverständnis, wenn man sogenannte Bausünden aus der jüngeren Vergangenheit plötzlich als Baukultur bezeichnet. Hier braucht es eine Offenheit und den Dialog. Ich glaube, das Schlimmste wäre eine reine Investorensicht einerseits oder nur die konservative Erhaltungsoptik andererseits.
Ich verstehe sehr wohl, dass die Erhaltungsoptik mitunter sehr radikal sein muss, weil Veränderungen zur Zerstörung des grundsätzlichen Baubildes führen. Auf der anderen Seite – ich nehme als Beispiel hindernisfreies Bauen oder energetische Sanierungen – sind moderne Ansichten mittlerweile unbestritten, die sich vielleicht nicht immer ganz mit der herkömmlichen Baukultur eines Gebäudes in Einklang bringen lassen. Auch hier bedarf es des gesunden Menschenverstands und, ich bestreite das in keiner Art und Weise, der fachmännischen Beurteilung. Ich muss allerdings noch ergänzen, dass, wenn der Staat in das Privateigentum eingreift, weil er etwas schützen möchte, es immerhin für den Gebäudebesitzer bezahlbar bleiben muss. Hier spreche ich auch aus eigener Erfahrung: Die Stadt Chur besitzt Gebäude, die über Jahrzehnte in einem schleichenden Prozess regelrecht verwahrlosten. Die Budgets, um diese Gebäude zu sanieren, wurden nie gesprochen und irgendwann waren sie in so schlechtem Zustand, dass sich eine Sanierung finanziell kaum mehr tragen lässt. Auf der anderen Seite kann man es aber nicht abreissen, weil es eben zur Baukultur beiträgt. Hier tut sich eine Schere auf zwischen der bewahrenden Sicht und der tatsächlich realen Möglichkeit, einen Kredit oder eine politische Mehrheit für das Vorhaben zu erhalten.
Wir erleben nun auch einen Paradigmenwechsel, nicht?
Ja, und wir können froh darüber sein, dass wir diesen Paradigmenwechsel schon vor etwa 30 Jahren hinbekommen haben: Dass die Altstadtbauten nicht durch moderne Architektur von anno dazumal ersetzt worden sind. Ich glaube, hier hat sich eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung, in der Politik und in der Fachwelt durchgesetzt, dass gewisse Bauten erhalten werden. Und ich glaube, bei diesen Werken ist auch die Akzeptanz des Investors gegeben. Dennoch gibt es kein Schwarz-Weiss. Man muss immer zusammen eine Lösung finden.
Interviewerin: Jenny Keller, Stiftung Baukultur Schweiz
Stiftung Baukultur Schweiz
Die Stiftung Baukultur Schweiz ist eine nationale, neutrale und politisch unabhängige Stiftung. Im Frühjahr 2020 gegründet, bringt sie Akteure zusammen, schafft Plattformen, initiiert Prozesse und macht sich stark für jene, welche die Grundlagen der Baukultur inhaltlich ausarbeiten oder diese in der Praxis umsetzen.